Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn;
aber Israel kennt's nicht, und mein Volk versteht's nicht.
Mit diesem mahnenden Wort des Propheten Jesaja (Jesaja 1, 3) gelangten Ochs und Esel in die Krippe von Bethlehem, obwohl der Evangelist Lukas in seinem Bericht von der Geburt Jesu diese Tiere gar nicht erwähnt.
AmJohannistag, 24. Juni, dem Termin der Neunhofer Kirchweih, ist Weihnachten noch genau sechs Monate entfernt. Was also haben ein Ochse bzw. fünf Ochsenaugen in dieser Sommerausgabe des Kirchenboten zu suchen?
Nun, die Gestalt des beeindruckenden Auges eines Ochsen dient sprachlich auch zur Bezeichnung ganz anderer Dinge, z. B. eines Schmetterlings, eines Gebäckstücks oder eines Spiegeleis. Sie findet aber auch als architektonischer Begriff Verwendung: Das Ochsenauge oder „Oculus“ (Lateinisch für Auge) bezeichnet ein kreisrundes oder ovales Fenster. Solche Lichtöffnungen finden sich in allen Zeiten der Architekturgeschichte, und die Neunhofer Kirche besaß sogar fünf davon in runder Form.
Als Wehrkirche war St. Johannis ursprünglich nur mit wenigen kleinen Rundbogenfenstern ausgestattet, denn jegliche Öffnung, ob Tür oder Fenster, erschwerte die Verteidigung des Gebäudes. Nach der schweren Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg ging man ab 1664 an den Wiederaufbau.
Der Innenraum sollte nun etwas heller gestaltet werden und so fügte man fünf Ochsenaugen in die Fassadenmauern ein, vier auf der Nord- und ein fünftes auf der Südseite, das dort zwei ältere Rundbogenfenster ergänzte. Die ovalen Öffnungen wurden an der Außenseite durch eine auf das Mauerwerk aufgetragene hellgraue Umrandung besonders betont. Der Einbau der Längsempore 1668 führte allerdings dazu, dass die ovalen Fenster das Tageslicht nur dorthin lenkten und die Bänke darunter ziemlich im Dunkel lagen.
Es dauert nochmals 200 Jahre, bis man sich im Zuge einer größeren Kirchenrenovierung dazu entschloss, größere, langgestreckte Fenster in der heutigen Gestalt in einheitlicher Anordnung durchzubrechen. Die Zeiten des Dämmerlichtes waren damit vorüber und am Kirchweihfest 1871 konnte die nun geradezu lichtdurchflutete Kirche mit einer Predigt über den 84. Psalm wieder eingeweiht werden.
Und die alten Ochsenaugen? Sie wurden teilweise durch die neuen Fenstereinbrüche ersetzt, zwei von ihnen passten aber nicht mehr „in die Reihe“ und man vermauerte sie etwas plump mit Sandsteinbruchstücken, die man von der Abtragung der ursprünglich weitaus höheren Friedhofsmauer 1841 zur Verfügung hatte. Das störte weiter nicht, denn die gesamte Fassade des Kirchenschiffs wurde anschließend verputzt. Putz auf Sandstein ist allerdings zumeist keine befriedigende Lösung und im vergangenen
Jahrhundert trat zunehmend der Sandstein wieder ans Tageslicht.
Der Fassadenputz wurde nicht mehr erneuert, Reste davon kann man aber heute noch entdecken und natürlich auch die beiden „erblindeten“ Ochsenaugen an der Nordseite. Auf den ersten Blick geben sie Rätsel auf und werden vielleicht als unschön angesehen, aber eigentlich erzählen sie nur die in diesen Zeilen vorgestellte Baugeschichte „vom Dunkel zum Licht“.
Ewald Glückert, Archivpfleger